Interview mit Dr. Evelin Kirkilionis zum Thema Tragen bei Spaltbildung

1)      Liebe Frau Dr. Kirkilionis, bitte stellen Sie sich kurz vor

Ich bin Verhaltensbiologin und Mitbegründerin der selbstständigen Forschungsgruppe Verhaltenbiologie des Menschen (FVM). In unserer Forschungsgruppe untersuchen wir verschiedene Aspekte der menschlichen Verhaltensentwicklung unter humanethologischen und psychobiologischen Gesichtpunkten. Neben meiner Mitarbeit in der Forschungsgruppe war ich über viele Jahre hinweg zudem in verschiedenen Projekten im afrikanischen, zentralasiatischen und asiatischen Raum tätig und habe so andere Kulturkreise kennen gelernt. Das Thema Tragen ist für mich speziell auch nach 20 Jahren Forschung aktuell und ein wichtiger Aspekt für die Entstehung einer guten Eltern-Kind-Beziehung. Dabei geht es nicht nur um die kindlichen Grundbedürfnisse, sondern auch um unsere angeborenen Fertigkeiten als Eltern und wie unsere Verhaltensausstattung in der heutigen Welt hilfreich sein, gegebenenfalls verschüttet oder zum Stolperstein werden kann. 

 

2) Glauben Sie, dass gerade Kinder mit einer Behinderung vom Tragen profitieren können?

Alle Kinder profitieren vom Tragen, wobei ich das zunächst in diesem Zusammenhang als eine Art der Vermittlung von Körpernähe und Zuneigung verstanden haben möchte. Natürlich hat Tragen noch andere wichtige Aspekte wie Prophylaxe gegen Hüftdysplasie, Förderung der Sinnesentwicklung etc.. Man kann Körperkontakt selbstverständlich auch auf anderen Wegen vermitteln, nur ist dies dann zeitaufwändiger, da Tragen „nebenbei“ geschehen kann. Ein im Vergleich zum Durchschnitt sich normal entwickelndes Kind benötigt gängige Unterstützungsformen, um einen Entwicklungsschritt voranzukommen. Selbstverständlich darf dabei nicht vergessen werden, dass jedes Baby ganz spezielle individuelle Bedürfnisse hat. Ein Baby ist im Vergleich zu einem anderen viel liebesbedürftiger und benötigt mehr Zuneigung, Zuwendung und Nähe. Wird dies im verwehrt, wird auch dieses Kind nicht in der Form gefördert, wie es seine individuelle Situation verlangt, d.h. es kann gegebenenfalls sein gesamtes Entwicklungspotential nicht voll entfalten.

Behinderte Kinder haben ein anderes Ausgangsniveau und benötigen mehr Förderung, insbesondere natürlich bezüglich ihres speziellen Problemfeldes. Wenn sie nun auch noch auf einer anderen Ebene mangelnde Unterstützung erfahren, wirkt sich dies wahrscheinlich auch auf ihr besonderes Problemfeld aus, da ein Teil ihrer „Kräfte“ auf dieser anderen Ebene gebunden ist. Anders herum formuliert, unterstützt man behinderte Kinder auch in den Bereichen, die nicht zu ihrem Problemfeld gehören, setzt man Ressourcen frei. So können sie wahrscheinlich auch ihre Problembereiche eher meistern. Daher bin ich sicher, dass Problemkinder vom Tragen profitieren, da ihr Grundbedürfnis nach Nähe und Körperkontakt befriedigt wird und sie zudem eine zusätzliche Förderung in verschiedensten Bereichen erfahren. So fördert die Anregung der verschiedenen Sinne während des Tragens nicht nur die entsprechenden Gehirnareale und deren Ausreifung. Da die einzelnen Gehirnregionen miteinander vernetzt sind, wirkt sich dies auch auf anderen, nicht direkt betroffene Areale aus. Besonders die Stimulation des taktilen und des proprio-vestibulären Systems, d.h. die Wahrnehmung von Bewegung und der Stellungen des Körpers im Raum, scheint für die kindliche Entwicklung besonders wichtig zu sein. Sie gelten als Schrittmacher für die gesamte kindliche Gehirnentwicklung, denn das Gehirn braucht Anregung zur Ausreifung.

 

copyright didymos
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3) Wie wirkt sich das Tragen, Ihrer Meinung nach in diesem speziellen Fall auf Mutter und Kind aus?

Spricht man vom Tragen, steht zumeist die Bedeutung für das Kind im Zentrum der Aufmerksamkeit. Getragenwerden heißt aber, es gibt einen Tragenden und einen Getragenen. Babys profitieren von der Körpernähe, d.h. von der Gewissheit, die Sicherheitsbasis seines jungen Lebens mit fast allen Sinnen wahrnehmen zu können. Das Sicherheitsgefühl regt zur Interaktion an, fördert das Interesse an Neuem. Getragene Kinder weinen weniger, sind eher in einem zufriedenen aufmerksamen Zustand. Und hier kommt nun die Wirkung auf den Tragenden ins Spiel. Eltern, die ein zufriedenes, neugieriges, selten weinendes Kind haben, sind ihm eher zugewandt. Denn ein solches „pflegeleichtes“ Baby vermittelt den Eltern, dass sie gute, kompetente Eltern sind. Und wenn man sein Baby so nahe am Körper trägt, kann man seine Regungen eher spüren und seine Bedürfnisse besser einschätzen als bei Verwendung eines Kinderwagens. Das ist die allgemeine Seite. Eine Studie in einem sozial ausgesprochen kritischen Umfeld zeigte zudem, dass Eltern, die ihr Baby trugen, diesem eher zugewandt waren, feinfühliger auf es eingingen. Dies führte, da Feinfühligkeit ein wichtiger Faktor für einen gelungenen Aufbau der Eltern-Kind-Beziehung ist, eher zu einer sicheren Bindung des Kindes an seine Eltern als bei den Vergleichesfamilien aus dem gleichen, kritischen sozialen Umfeld, die ihre Kinder nicht getragen hatten. Dies zeigt, wie wichtig die Körpernähe zu ihrem Kind auch auf Seiten der Eltern ist und sie veranlasst, sich ihrem Baby bereitwilliger und feinfühliger zuzuwenden, was sich wiederum positiv auf das Kind auswirkt.

Eltern, deren Kind aus verschiedensten Gründen nicht dem Bild entspricht, das sie sich während der Schwangerschaft von ihm machten, haben oft große Schwierigkeiten, eine Bindung zu ihm aufzubauen. Das Phänomen hat man besonders bei Frühchen untersucht. Gerade wenn der Kopf/Gesichtsbereich das Problemfeld darstellt, ist der Aufbau einer intensiven emotionalen Beziehung der Eltern zu ihrem Baby schwierig. In dem Fall benötigen Eltern alle Hilfestellung deren sie habhaft werden können. Die intensive körperliche Nähe während des Tragens kann hier eine Möglichkeit sein, die Bindungsbeziehung auf Seiten der Eltern entstehen zu lassen und zu intensivieren. 

 

mamaponcho.ch
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4) Kann das Tragen auch die Stillsituation günstig beeinflussen?

Durch die Nähe während des Tragens spüren Eltern die Bewegungen und Reaktionen der Kleinen direkt. So können sie daher schon frühzeitig wahrnehmen, dass ihr Baby z.B. bald aufwachen wird und aus der alltäglichen Erfahrung wissen sie, wenn zudem eine Mahlzeit fällig ist. Mütter können sich daher, sind sie unterwegs, rechtzeitig auf die Suche nach einer geeigneten Lokalität machen, um in Ruhe ihr Baby zu stillen. Alleine die Tatsache, dass das Kind nicht allzu lange auf eine Reaktion der Mutter warten muss, dass es nicht nötig ist, lautstark sein Hungergefühl mitzuteilen, ist schon ein Vorteil. Ein Stillsituation, bei der sich ein Baby in einen Schreianfall hineingesteigert hat und dann hektisch die Brustwarze sucht, ist nicht gerade eine gute Ausgangsbedingung. Aber das sind wohl meist nur Einzelsituationen, die durch das Tragen besser gestalt werden können. Ich glaube, dass durch die häufige körperliche Nähe eine Vertrautheit entsteht zwischen Mutter und Kind - natürlich auch zwischen Vater und Kind - die insgesamt das Umgehen mit dem Baby einfacher macht. Seine körperlichen Reaktionen und Bewegungen sind den Eltern insgesamt schneller vertraut, ihr eigenen Handlungsweisen daher wahrscheinlich sicherer und ruhiger. Stillen ist ein körperliche Akt, bei dem sich zwei Partner aufeinander einstellen müssen. Je vertrauter die beiden Partner sind, um so besser wird dies gelingen. Auch wenn es keine Untersuchungen gibt, die belegen, dass getragene Kinder eher gestillt werden. Dazu spielen viel zu viele Faktoren eine Rolle, die sich kaum auseinander halten lassen, um eine derartige direkte Beziehung herstellen zu können. Doch wir wissen, dass Mütter, die nach der Geburt ihr Kind beständig bei sich haben und betreuen dürfen, unter vielen anderen positiven Faktoren auch weniger Probleme mit dem Stillen haben. Das hat etwas mit Vertrautheit zwischen den beiden Stillpartnern und dem Vertrauen in die eigenen mütterlichen Fähigkeiten zu tun. So ist meiner Meinung nach auch der Schluss zulässig, dass sich Tragen zumindest indirekt positiv auf das Stillen auswirkt. 

 

 

Buchtipp:

TRAGEKINDER

Das Kindersachbuch zum Thema Tragen und Getragenwerden

Autorin / Illustratorin: Regina Masaracchia IBCLC

Co-Autorin: Trageberaterin Alexandra Schneider

Mit einem Nachwort von Dr. Evelin Kirkilionis ("Ein Baby will getragen sein", Verlag Kösel)

Interview mit IBCLC, Hebamme und Trageberaterin Anja Lohmeier

Liebe Anja, bitte stelle Dich kurz vor.

Anja Lohmeier, 37 Jahre alt, verheiratet, 2 Töchter
Ich bin Still- und Laktationsberaterin IBCLC, Gründerin und Inhaberin einer Tragetuchschule samt Laden für Tragebedarf http://www.die-tragetuchschule.de, Hebammenschülerin im 3. Ausbildungsjahr, Studentin BSc Midwifery an der FH Osnabrück im 3. Semester und Gründungsmitglied der Sektion Stillen in der DGHWi (Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft). Wenn mir noch Zeit
dazu bleibt, schreibe ich gerne Artikel für die Deutsche Hebammenzeitschrift und Rezensionen für das Hebammenforum.

Was bedeutet Dir Muttermilchernährung und Stillen?

Eine lange Stillzeit mag den Anschein einer exklusiven Spezialleistung haben, weil sie bei uns selten geworden ist. Tatsächlich aber ist sie etwas ganz Normales, ein natürlicher Bestandteil der Mutter-Kind-Beziehung und dennoch eine der wertvollsten Gaben, die wir unseren kleinen Kindern mit auf den Weg geben können. Das ist ein Zitat von Nikola Huppertz, eine meiner ehemaligen Stillgruppenmütter, dem ich
mich nur voll und ganz anschließen kann. Gestillt zu werden ist ein Grundrecht aller Babys.

Wie bist du zur Stillberatung gekommen?

Zunächst durch die eigenen Stillschwierigkeiten bei meiner erstgeborenen Tochter. Ich konnte sie erst ab dem 8. Lebenstag stillen. Ich habe vor Freude und Erleichterung geweint, als es endlich geklappt hat. Und dann habe ich mir vorgenommen, das Stillen so lange zu genießen, wie es nur geht. Das waren dann pro Kind 5 ganze Jahre, acht Jahre insgesamt, zwei Jahre davon Tandemstillen. Meine erste Stillberaterinnen-Ausbildung habe ich bei einer IBCLC erhalten, deren Stillgruppe ich besucht habe, als meine Tochter ein halbes Jahr alt war. Als sie ein Jahr alt wurde, habe ich eine Langzeitstillgruppe gegründet und diese 7 Jahre lang geleitet. In diese Zeit fiel auch meine Ausbildung als AFS-Stillberaterin. Parallel dazu habe ich nach der Geburt meiner zweiten Tochter eine weitere Stillgruppe in einer Hebammenpraxis gegründet und 4 Jahre lang geleitet. Während dieser Zeit reifte der Gedanke und der Wunsch, Hebamme zu werden. Ich rechnete mit einer längeren Wartezeit auf einen Ausbildungsplatz und fing mit der Ausbildung als Still- und
Laktationsberaterin IBCLC an, um diese Zeit sinnvoll zu nutzen. Aber ich hatte Glück und bekam schon auf mein erstes Bewerbungsschreiben einen Ausbildungsplatz. Nun habe ich bald das Glück und die Freude, mich hauptberuflich als Hebamme weiterhin der Stillberatung als meinem Steckenpferd widmen zu können.

Welche stillfreundlichen Zufütterungsmethoden gibt es?
Fingerfeeding, Becherfütterung, Zufüttern an der Brust mittels Sonde, Brusternährungsset


Welche Erfahrung hast du mit dem BES gemacht?

Wenn es den Müttern richtig erklärt wird, kommen sie gut damit klar. Leider ist es viel zu wenig verbreitet bzw. bekannt. Ich kenne Frauen, die über 10 Monate mit dem BES gestillt haben.

Bitte erzähle kurz einige Erfolgsgeschichten zum Stillen bei Spaltfehlbildung.

Eine Mutter, die ich betreut habe, wusste durch Pränataldiagnostik (Ultraschall) bereits, dass sie ein Baby mit LKGS erwartete. Sie setzte sich bereits in der SS mit mir in Verbindung, weil sie schon ihr erstes
Kind lange und gerne gestillt hatte. Sie hatte den unbedingten Wunsch, auch dieses Baby zu stillen. Es gab dann nach der Geburt erstaunlich wenige Probleme mit dem Anlegen, denn die Mutter war sehr gut informiert und hatte von mehreren stillkundigen Personen Unterstützung. Bei einfachen Lippenspalten reichte oft schon eine andere Anlegeposition oder die Zuhilfenahme eines Fingers der Mutter, um den fürs Stillen nötigen Saugschluss zu ermöglichen.

Was kannst du uns zum Thema Tragen zu diesem Thema sagen?

Getragen zu werden ist etwas, dass alle Babys - egal ob mit Besonderheiten oder ohne - einfach von ihrer biologischen Ausstattung her erwarten. Es entspricht ihrem Kontinuum (siehe Jean Liedloff). Ich könnte (und habe bereits) über 30 Seiten zum Thema Tragen schreiben. Die faszinierenden Auswirkungen des Tragens von Babys und Kleinkindern habe ich bei meinen eigenen Töchtern erleben dürfen. Gerade in
Krankheitsphasen war das Tragetuch oder eine andere gute Tragehilfe unentbehrlich und hat meinen Mädchen Sicherheit, Geborgenheit und Urvertrauen vermittelt. Wie sonst könnte frau in der heutigen Welt einen über lange Zeit ununterbrochenen Körperkontakt herstellen und beibehalten, der für sie und ihr Kind so wichtig ist? Ein super Tipp auch bei Stillstreik oder -schwierigkeiten aller Art: Körper- und Hautkontakt im Tragetuch herstellen. Über den Hautkontakt von Mensch zu Mensch geschehen faszinierende Dinge in unseren Körpern, über die noch viel zu wenig bekannt ist. Oder nutzen wir dieses Wissen nur nicht?

Liebe Anja, vielen Dank für das interessante Interview!

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